Psychounlogisch

Kristin | Persönlichkeit • 9. Juni 2024

Psychounlogisch, oder warum ich weder als psychologische Beraterin noch als Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeiten will.

Schon als Teenager, als es dann langsam darum ging, mich für einen Beruf zu entscheiden, fand ich die Psychologie sehr interessant. Ich dachte, da würde ich lernen, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten. Und was sie tun können, wenn es ihnen nicht mehr gut geht. Zudem fand ich es spannend, wenn Mediziner, die nicht weiter kamen, weil sie keine körperlichen Ursachen fanden, dann oft sagten: „das muss was Psychologisches sein“. Doch wie logisch ist „das Psychologische“ tatsächlich?


Nach meiner Schulzeit habe ich mich zunächst für einen anderen Weg entschieden und kein Studium in einer psychologisch-therapeutischen Richtung angefangen. Ich habe das sehr lange bereut. Doch heute weiß ich, es war gut so, wie es war, und ich bin froh mir den unvoreingenommenen Blick, ohne die Trübungen durch ein psychologisches Studium erhalten zu haben.


Durch meine lange Suche nach meiner Berufung hatte ich ja schon eine Menge Methoden und Tipps ausprobiert. Irgendwann erinnerte ich mich auch wieder, dass ich ja ursprünglich Psychologie studieren wollte. Und was liegt näher, als nach jahrelangem Suchen, endlich in die Richtung zu gehen, in die ich bereits als Teenager gehen wollte. Und so machte ich zunächst eine Weiterbildung zum „Psychologischen Berater“.


Während der Weiterbildung erfuhr ich, dass dieser Beruf gar nicht geschützt, ja noch nicht mal richtig definiert ist und sich quasi jeder „psychologischer Berater“ nennen kann und diese Ausbildung im Prinzip gar nicht nötig gewesen wäre. Während der Weiterbildung merkte ich auch, dass ich die meisten vermittelten Methoden bereits aus verschiedenen Ratgeber-Büchern kannte. Es war nur wenig Neues und vor allem wenig Hilfreiches dabei.


Na gut, dachte ich, dann mache ich eben noch den Heilpraktiker für Psychotherapie. Der wird schließlich vor dem Gesundheitsamt geprüft und ist offiziell anerkannt.

In der Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie lernte ich allerdings fast ausschließlich zu diagnostizieren, aber nicht zu therapieren.

Das mag an der Wahl meiner Heilpraktikerschule gelegen haben, oder vielleicht auch daran, wie diese Ausbildung generell gehandhabt wird. Therapie- und Beratungsverfahren hätten über weitere Kurse erlernt werden können. Und davon gibt es eine Menge. Mein Methodenkoffer, wie es gerne genannt wird, blieb also weiterhin nur spärlich befüllt.


Und wer jetzt einwendet, dass ein Psychologie-Studium besser und logischer sei, der irrt sich. Nicht nur die Heilpraktikerschule hat ausführlich erklärt, warum die Fachbereiche oft verschwimmen und warum es manchmal sehr schwer ist, objektiv zu sein, sogar im ICD wird mehrfach aufgeführt, dass Ursachen oft unklar, vielfältig oder bisher nur wahrscheinlich sind. (ICD: Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)


Kein Wunder also, dass mich irgendetwas an der Ausbildung, bzw. dem Inhalt und Aufbau störte. Nach der Recherche nach für mich passenden Zusatzausbildungen öffnete ich mich schließlich für eine komplett andere Sichtweise, die für mich sofort logisch und nachvollziehbar war, was ich über die Ausführungen im ICD und die der Heilpraktikerschule nicht sagen konnte.


Über einen Abschnitt war ich besonders verwundert.


Ein Abschnitt in den Unterlagen zur Weiterbildung „Psychologischer Berater“ verwunderte mich besonders, weil er besonders unlogisch war. Ein Beispiel von vielen in der Psychologie. Es ging um Wahrnehmungsfilter.


Wahrnehmungsfilter


Wir alle hätten sogenannte Wahrnehmungsfilter, die potentielle Fehlerquellen in unserer Wahrnehmung sein können. Das kennt jeder. Nimm dir vor, morgen auf blaue Autos zu achten, und du wirst eine Menge davon entdecken.


In den Schulungsunterlagen wurden folgende „Hauptfilter“ aufgeführt.


  • Interpretationen
  • Wahrnehmungsfilter
  • Wahrnehmungsverzerrungen
  • Selektion / selektive Wahrnehmung
  • Ergänzungen
  • Strukturierung
  • Halo-Effekt
  • Attribuierungsfehler
  • Bestätigungsfehler
  • Sympathie-Fehler
  • Kontroll-Illusion
  • Illusorische Korrelation
  • Rückschau-Fehler
  • Gender-Bias


In den Ausführungen, die unter dem ersten Oberbegriff „Interpretationen“ aufgeführt sind, heißt es wörtlich:


„Wir hören alles, was uns erzählt wird, auf der Basis unserer eigenen Biografie. Dies müssen wir uns immer wieder bewusst machen, sonst beginnen wir die Aussagen unseres Gegenübers zu interpretieren. Aber nicht nur unsere Biografie, sondern auch noch andere Parameter beeinflussen unsere Wahrnehmung.“


Danach werden folgende Parameter aufgeführt, die zu Wahrnehmungsfehlern führen sollen. Darunter seien unter anderen:

  • Gefühle
  • Stimmungen
  • Wertvorstellungen
  • moralische Grundsätze
  • Glaube
  • Religionen
  • Prinzipien
  • Triebe, wie Durst, Hunger und Geschlechtstrieb
  • Einstellung zu bestimmten Dingen
  • Bedürfnisse
  • Wahrnehmungsverzerrungen


Danach folgt noch eine Mahnung an mich als künftige Therapeutin, während eines Gespräches immer mal wieder zu überprüfen, ob wir aufgrund unserer Biografie oder aufgrund eines der „anderen Parameter“ gerade einer Interpretation aufsitzen.


Wieso dieser komplette Abschnitt komplett unlogisch ist


Während die Psychologen und Therapeuten damit beschäftigt sind herauszufinden, welchen Filter sie selbst und welche ihre Patienten benutzen, wird das Wesentliche übersehen: Woher diese Filter überhaupt kommen.


Alles, was wir hören, sehen, planen, denken und sagen basiert auf unserer Biografie. So weit stimme ich mit dem, was die Psychologie lehrt, überein.


Zur Vorbereitung auf die schulinterne Prüfung hatte ich mir folgende Stichwörter aus dem Kapitel über Wahrnehmungsfilter notiert und ab dem sogenannten Halo-Effekt wurde ich stutzig. Mal sehen, ob es dir auch auffällt.


Interpretationen

Interpretieren, Vorurteile auf Grund der eigenen Biografie.


Wahrnehmungsfilter Wahrnehmungsverzerrungen

Fokus auf etwas Bestimmtes richten, Interpretieren, Vorurteile.


Selektion / selektive Wahrnehmung

Reize filtern, nur bestimmte Reize wahrnehmen und interpretieren, Vorurteile aufgrund Biografie.


Ergänzungen

Von außen aufgenommene Wahrnehmungen um persönliche Erfahrungen (Biografie, Vorurteile) ergänzen und interpretieren.


Strukturierung

Wahrgenommene Elemente werden zu einem Ganzen zusammengefügt. Bsp. Brillenträger ist intelligent. Interpretation, Vorurteil.


Halo-Effekt

Überstrahlung positiver/negativer Eigenschaften mit weiteren derselben Art, gemäß dem ersten Eindruck. Also wieder Interpretation und Vorurteile?


Na, ist es dir schon aufgefallen? ;-)

Weiter geht es.


Attribuierungsfehler

Ursachen zu oft bei handelnder Person, statt bei äußeren Bedingungen suchen. Systemischer Blick hilft. Interpretation, Vorurteil.


Bestätigungsfehler

Informationen so auswählen und interpretieren, dass sie eigene Erwartungen erfüllen. Wenn ich etwas so und so machen würde, dann kann es der andere nur so und so meinen. Interpretieren und Vorurteile.


Sympathie-Fehler

Du erinnerst mich an meine beste Freundin. Nach wenigen Augenblicken Sympathie oder Antipathie empfinden durch Parallelen zu sich selbst oder zu vertrauten Menschen. Daraus Schlüsse ziehen, die dem anderen nicht gerecht werden. Vorurteile und Interpretation.


Kontroll-Illusion

Die Annahme zufällige Ereignisse durch eigenes Verhalten kontrollieren zu können. Interpretation.


Illusorische Korrelation

Annahme eines Kausalzusammenhangs zweier Ereignisse, die objektiv nichts miteinander zu tun haben. Vorurteil, Interpretation.


Rückschau-Fehler

Verfälschte Erinnerung an eigene Vorhersagen, die bezüglich eines Ereignisses getroffen wurden, nachdem das Ereignis eingetreten ist. Vorurteil, Interpretation


Gender-Bias

Rollenklischees entsprechende Vermutungen anstellen, z.B. pink ist keine Farbe für einen Mann. Vorurteile und Interpretationen.


Mir fiel damals schon auf, dass hinter jedem Filter letztendlich irgendwie eine Interpretation oder ein Vorurteil steckt, aber ich konnte die Verbindung nicht erfassen. Ich konnte den gemeinsamen Nenner nicht klar benennen.


Wenn jeder Wahrnehmungsfilter auf Interpretationen und Vorurteilen basiert, dann muss es eine bestimmte Gemeinsamkeit, eine gemeinsame Basis geben, aber verwirrt durch diese ausschweifenden Ausführungen konnte ich es damals nicht klar benennen und erkennen. Damals dachte ich, wäre es nicht viel leichter und logischer, wenn ich statt an jedem einzelnen Filter, einfach an der gemeinsamen Ursache ansetze? Ich kam nur nicht drauf, was das genau war.


Als ich später den Zusammenhang zwischen Biografie und Persönlichkeit begriff, kramte ich die alten Lernunterlagen nochmals heraus und schaute mir die Stichpunkte noch mal genauer an. Ich las alles noch mal durch und plötzlich war es ganz logisch.

Der gemeinsame Ursprung ist die Persönlichkeit.


Wenn in den Unterlagen die Gefühle, Stimmungen, Wertvorstellungen, moralischen Grundsätze, Glaube, Religionen, Prinzipien, Triebe, Einstellung zu bestimmten Dingen, Bedürfnisse und Wahrnehmungsverzerrungen, als „weitere Parameter“ neben der eigenen Biografie aufgeführt werden, dann wird eine Trennung von der Biografie geschaffen. Was jedoch falsch ist. Deswegen konnte ich auch den Zusammenhang nicht erkennen.

Aus unserer Vergangenheit, aus unserer Biografie erwächst das, was wir später sind, unsere Persönlichkeit. Und aus ihr entspringen dann unsere Gefühle, Stimmungen, Wertvorstellungen, moralischen Grundsätze, Glaube, Religionen, Prinzipien, Triebe, Einstellung zu bestimmten Dingen, Bedürfnisse und Wahrnehmungsverzerrungen und so weiter.

Also hat alles im Prinzip den gleichen Ursprung: unsere Biografie und damit unsere Persönlichkeit.


Alles was wir erlebt und erfahren haben wird zu unserer Geschichte, egal ob es positive oder negative Geschichten sind. Sie bilden die Grundlage für unsere Persönlichkeit.


Interessant und gleichzeitig unlogisch ist also, dass in den Unterlagen zum Psychologischen Berater das Thema Wahrnehmungsfilter und Persönlichkeit getrennt betrachtet werden. Dabei wird bei Wahrnehmungsfiltern immer wieder vom Einfluss der eigenen Biografie gesprochen, diese wird jedoch nicht mit der eigenen Persönlichkeit in Verbindung gebracht.


Das Wort „Persönlichkeit“ kommt in dem 108 Seiten starken Begleitskript genau 7 Mal vor, darunter findet sich keine einzige Erklärung, was „Persönlichkeit“ bedeutet. Hingegen gibt es das Wort „Biografie“ 18 Mal.


Die Psychologie hat zwar verschiedene Einteilungen und Namen für diese Filter und Fehler gefunden, jedoch etwas Wichtiges übersehen, und zwar die Gemeinsamkeit aller Filter.


Ja, wir haben Wahrnehmungsfilter und wenn wir uns ihnen nicht bewusst sind, können sie uns stark einschränken. Nur würde ich sie nicht als Wahrnehmungsfilter bezeichnen, sondern als Persönlichkeitsfilter. Alles, was wir hören, sehen, planen, denken und sagen geht immer durch den Filter unserer Persönlichkeit.

Ein Filter wohlgemerkt.

Der Filter.


Bin ich meine Persönlichkeit?


Die gemeinsame Basis ist: der Ursprung aus der Persönlichkeit. Interpretationen, Gefühle, Stimmungen, Wertvorstellungen, moralische Grundsätze, Glaube, Religionen, Prinzipien, Triebe, Einstellung zu bestimmten Dingen, Bedürfnisse und die Wahrnehmungsfilter entspringen alle samt aus unserer Persönlichkeit, also aus unserer Biografie.

Wenn ich also woanders geboren worden wäre, hätte ich eine andere Persönlichkeit und damit andere Filter. Und wenn diese Filter meist auf Interpretationen und Vorurteilen beruhen, auf was beruht dann meine sogenannte „Persönlichkeit“?

Wenn mir also geraten wird, die Filter zu hinterfragen, dann gehe ich noch einen Schritt weiter und hinterfrage die Persönlichkeit. Beziehungsweise hinterfrage ich die Identifikation mit der Persönlichkeit. Kann ich wirklich etwas sein, was so formbar und veränderbar ist? Oder gibt es noch etwas hinter der Persönlichkeit?

Wenn ich mich einmal hinterfrage, wer oder was ich ohne meine Biografie, ohne meine Persönlichkeit und ohne meine Geschichten bin, dann bleibt etwas Bestimmtes übrig. Jeder kann es nennen, wie er will, jeder ist es und jeder kann es spüren.


Wir sind Bewusstsein.

Wir sind auch da, wenn wir uns auf die Lücke zwischen zwei Gedanken konzentrieren.

Wir sind Seele.

Wir sind keine Geschichtssammlung.

Wir sind keine Biografie.

Wir sind nicht das, was wir glauben zu sein, nicht unsere Persönlichkeit.


Und deswegen halte ich das Psychologische für unlogisch, eben psychounlogisch. Es werden zu viele Nischen geschaffen, zu viele Teilbereiche, zu viele ablenkende Details und Stückelungen. Es wird zu vieles abgespalten, eingeteilt und getrennt. Ich habe zu oft gelesen, dass die Ursachen entweder vielfältig sein können oder unklar sind oder vor einer langen Liste an Ursachen stand noch ein „Die Ursachen sind wahrscheinlich“ oder ein „Nach den derzeitigen Erkenntnissen der Wissenschaft sind die Ursachen...“.

Die gemeinsame Ursache ist die Biografie, die Persönlichkeit. Solange wir glauben, dass wir unsere Persönlichkeit, unsere Biografie sind, solange werden wir Probleme haben. Lösen wir diesen Glauben auf, dann lösen sich auch alle Interpretationen, Vorurteile, Verzerrungen und Fehler in der Wahrnehmung.


Es schien mir dann mit diesen Erkenntnissen einfach nicht mehr wahrhaftig, die Prüfung vor dem Gesundheitsamt zu machen und dann offiziell als „Heilpraktiker für Psychotherapie“ arbeiten zu dürfen. Ich beließ es bei der schulinternen Prüfung. Ich kann mit meinem heutigen Wissen einfach nicht voll und ganz hinter den Inhalten, die in dieser Ausbildung vermittelt werden, stehen.


Disclaimer:

Ich möchte mit diesem Blogartikel nicht behaupten, dass alle Therapien und Beratungen nichts bringen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass meist aus einer schlechten Geschichte, die wir über uns erzählen, eine gute Geschichte gemacht wird, die wir fortan über uns erzählen. Es ändert jedoch nichts am Geschichtenerzählen an sich.

Nicht die negative Geschichte ist das Problem, nicht die Änderung in eine positive Geschichte ist die Lösung. Dennoch kann das für eine gewisse Zeit helfen und vielen reicht es auch, wenn ihre negative Geschichte zu einer neutralen oder positiven Geschichte wird.

Ich würde lediglich gleich an der Basis ansetzen und das „Geschichtenerzählen“ hinterfragen. Dann können wir auch aufhören Geschichten von negativ in positiv ändern zu wollen. Und am besten wäre es diese Geschichten erst gar nicht als negativ und positiv zu bewerten. Ich weiß jetzt jedenfalls, wie das geht und schreibe auf dieser Website darüber, mal sehen, wann sich auch die Psychologie dafür öffnet.


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