Beruf oder Berufung?
Vom Sinn und Unsinn die eigene Berufung zu suchen

Im Jahr 2002, als ich in der 10. Klasse war, stand ich vor der Wahl, ob ich das Gymnasium vorzeitig mit dem Realschulabschluss verlasse und eine Ausbildung beginne. Als ich damals vor der Entscheidung stand, was ich werden soll, war ich verzweifelt.
Ich sehe mich noch, wie ich den dicken Katalog vom Berufsbildungszentrum durchblättere, mir die Berufe und Beschreibungen durchlas und dachte, das ist alles nichts für mich. Zuhause habe ich mir sogar eine Liste mit den Berufen ausgedruckt und nach und nach das durchgestrichen, was ich nicht wollte.
Auf gar keinen Fall wollte ich ins Büro und drei Mal darfst du raten, was ich schließlich gelernt habe und wo ich heute arbeite. :-D
Auf meiner Liste, die ich nach dem Ausschlussprinzip durcharbeitete, blieb ein bunter Strauß an Ausbildungen übrig: Gärtner für Zierpflanzenbau oder Baumschule, Förster, Tierpfleger für Tierheimtiere, Biologie- und Chemielaborant, Mediengestalter für Digital- und Printmedien, Fotograf, irgendwas mit Psychologie und Therapie und vielleicht eventuell sogar Bäcker oder Konditor.
Kaum hatte ich die Liste durchgeackert, wollte ich mich auf Ausbildungsstellensuche begeben, aber vorher zeigte ich das Ergebnis noch der Familie...
Und dann ging es los...
Alle möglichen Glaubereien, Ängste und Befürchtungen, Meinungen und Bewertungen wurden mir nun aufgetischt. Hier eine kleine Auswahl: Da gibt es so wenig Stellen, da ist es schwer rein zu kommen. Willst du wirklich jeden Tag Hundekacke aufsammeln? Da verdienst du nicht genug. Du willst den ganzen Tag im Wald sein? Du bist doch gar nicht der Typ fürs draußen sein. In Sachsen ist keine Medienlandschaft vorhanden, nur der MDR, willst du etwa zum MDR? In Köln sehe ich dich jedenfalls nicht. Was willst du denn im Labor? Wusste gar nicht, dass du dich für Chemie interessierst? Als Fotograf verdienst du nichts, brotlose Kunst, mach das lieber als Hobby weiter. Psychologie? Ernsthaft? Da musst du ewig studieren und mal ehrlich Psychologen, ja also die haben ja selber alle einen Knall! Und Bäcker? Wirklich? Willst du wirklich immer um 2 oder um 3 Uhr aufstehen? Du bist ein Langschläfer, das weißt du doch.
Kein Wunder, dass mich das verunsicherte. Das führte dann dazu, dass ich mich entschied doch noch zwei Jahre weiter zur Schule zu gehen, um mein Abitur zu machen. Was ich dann damit vor hatte? Keine Ahnung. Vielleicht doch Psychologie studieren?
Aus dem Abitur wurde nichts und ich begab mich wieder auf die Suche nach einer Ausbildung. Doch diesmal standen Immobilienkauffrau, Bürokauffrau, Verwaltungsfachangestellte, Steuerfachangestellte und Rechtsanwaltsfachangestellte auf meiner Liste. Was „Ordentliches“ und „Nützliches“ mit „Sicherheit“ und so.
Und wie oben schon angedeutet, habe ich dann Bürokauffrau gelernt, mein Schwerpunkt lag auf Rechnungswesen und Buchhaltung. Heute arbeite ich tatsächlich immer noch in einem Büro. Das Gute an dieser Ausbildung: ich habe 10-Fingertastschreiben gelernt und kann die Artikel für Deine-Lebensfreude.de besonders schnell tippen ;-) Nein, Scherz beiseite. Ich redete mir den Beruf damit schön, dass ja jede Firma ein Büro hat und ich so in jede Richtung hätte gehen können. Eine kaufmännische Ausbildung zu haben, sei immer nützlich, auch für den Fall, dass ich mich mal selbstständig machen will, und es gab ja schließlich noch jede Menge Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich.
Die Ausbildung lief dann sehr gut und mein Ausbildungsbetrieb bot mir nach dem Abschluss auch direkt eine Stelle an. Und anderthalb Jahre später, ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, sitze ich im Feierabend zu Hause auf meiner Couch und frage mich: Ist das schon alles? Soll das schon alles gewesen sein? All die Schule und Ausbildung und Noten und lernen, um jetzt 40 Jahre im Büro zu arbeiten?
Und da ging es wieder los...
Eine Freundin empfahl mir einen Ratgeber aus der Kategorie „Finde deine Berufung und du muss nie mehr arbeiten“. Übrigens der Erste von bestimmt 1000 Ratgebern zu diesem und anderen Themen. Es folgten mehrere Jobwechsel, andere Branchen, andere Arbeitszeiten, Vollzeit, Teilzeit, Weiterbildungen, Schulabschluss nachholen und der Beginn eines Studiums, ich probierte alles Mögliche aus. Und zwischendrin machte ich eine Fülle von Übungen aus einer Unmenge an Ratgebern, um meine „Berufung“ vielleicht doch noch zu finden. Und gute 10 Jahre später, frage ich mich immer noch, was wohl meine Berufung sein könnte.
Erst letztes Jahr im Dezember ist mir klar geworden, dass ich heute in einer Zeit lebe, wo all diese Berufe, die ich mir damals in der 10. Klasse ausgesucht hatte, heute Hochkonjunktur haben.
Natur, Natürlichkeit und Nachhaltigkeit, Bio, organic, vegan, vegetarisch und gesunde Lebensmittel sind heute im Trend, es gibt so unglaublich viele Firmen, die sich damit beschäftigen. Es gibt Naturschutzprojekte, solidarische Landwirtschaften, Nahrungsergänzungsmittel, natürliche Kosmetik, alternative Heilmethoden, Naturheilverfahren. Das Sortiment und die Angebote für unsere geliebten Vierbeiner ist gigantisch geworden. Hundetrainer, Hundetagesstätten, Hundeschulen, Tierheilpraktiker, es gibt sogar jede Menge TV-Formate, die es damals nicht gab. Köche, Bäcker und Konditoren haben es ins Fernsehen geschafft. Das zeigt das gestiegene Interesse an diesen Themen. Es gibt Apps, es gibt Online-Kurse und Kanäle für alles Mögliche. Digitale Medien sind heute überall präsent. Keine Firma kommt um eine Website, Werbung oder professionelle Fotos herum. Auch Therapie oder Selbsthilfe ist heute kein Tabu-Thema mehr und wird immer wichtiger. Hier um die Ecke ist sogar ein Bäcker, der mit Leidenschaft bäckt und erst um 9 Uhr seine Türen öffnet, die Schlange vor seinem Laden ist immer lang. Es geht alles, mit Leidenschaft, auch so, dass man nicht um 2 Uhr aufstehen muss.
Was ich damit andeuten will: egal für was ich mich damals entschieden hätte, ich hätte sicherlich später meine Nische gefunden. Niemand kann wissen, was passiert, wenn Weg A oder Weg B oder Weg C gegangen wird. Wir glauben immer nur, dass wir wüssten, was passiert. Aber das stimmt nicht. Wir sind keine Hellseher. Egal, was ich gelernt hätte, ich hätte irgendetwas daraus machen können. Die ganzen „Glaubereien“ und Befürchtungen von damals waren unbegründet. Eine komplette Illusion.
Als Kind habe ich besonders Hunde geliebt. Ich wusste alles, kannte die Namen und Eigenheiten fast jeder Rasse. Und das wäre mir sicherlich heute zu Gute gekommen.
Diese sinnlose Suche nach meiner Berufung hat mich 10 Jahre gekostet und mich depressiv werden lassen. Denn im Grunde wusste ich ganz genau, welche Interessen und Leidenschaften ich habe, und somit waren auch die Grundlagen meiner Berufung klar. Ich habe mich nur nicht getraut, diese zu verwirklichen. Und mein Umfeld hat ihr Übriges dazu beigetragen. Was absolut kein Vorwurf ist, denn sie haben es ja auch nur so gelernt, und die Generation davor hat es auch so gelernt und so weiter.
Und heute erkenne ich, dass ich, egal welchen Weg ich gegangen wäre, heute unglaublich viele Möglichkeiten der Entwicklung gehabt hätte. Die Märkte haben sich so enorm entwickelt, wie wir es uns damals nicht hätten vorstellen können. Ein bisschen mehr Vertrauen ins Leben und in die eigenen Talente und Interessen und ein bisschen weniger „Glaubereien“, und der Lebensweg wäre viel leichter gewesen.
Was ich damit sagen will: wenn du gerade deine „Berufung“ suchst oder vor der Wahl stehst, was du mal werden möchtest, dann mach das, was dir liegt. Mach das, wo du ein natürliches Interesse für hast. Es wird dir viel leichter fallen, du wirst ganz natürlich viel besser in deinem Job sein und du kannst nicht wissen, was passiert, wenn du diesen Weg oder jenen Weg gehen wirst. Es ist ein kompletter Irrglaube zu denken, dass wir unsere Zukunft vorhersagen könnten.
Die Idee, dass meine Berufung zu finden und zu leben das Beste für mich sei, kann so sein, es kann aber auch anders sein. Das kann ich nicht wissen. Niemand kann das. Was dann übrigens auch den Sinn und wirklichen Nutzen von Ratgebern in Frage stellt.
Ich habe die Suche nach meiner Berufung schließlich aufgegeben und ich war fein damit. Mir ging es gut, ich fühlte mich wohl damit, ja sogar befreit. Ich war befreit von der Vorstellung, dass ich etwas wollen muss.
Du musst doch etwas wollen. Oder?
Muss ich das?
Nein, denn ich kann auch einfach nur als natürlicher Mensch hier sein, ohne einer wie auch immer gearteten Berufung nachzugehen. Meine „Berufung“ ergab sich dann wie von selbst. Okay, im Moment ist es nur eine Lebensvision oder ein Lebensmotto. Was daraus wird, keine Ahnung.
An unserem Lebensweg sind nicht nur wir selbst beteiligt, wer weiß wem wir begegnen und wer uns mit seinen Ideen inspiriert. Es ist anmaßend zu glauben, dass wir schlauer als das Leben sind.
Wie das Ganze bei uns am Ende aussehen wird, das weiß ich nicht. Keine Ahnung. Ich mache mir nicht mehr die Illusion, die Zukunft vorhersagen zu können, und ich kann wunderbar damit leben. Ich freue mich auf diese spannende Reise und kann jedem nur empfehlen sich ebenfalls vorurteilsfrei auf das Abenteuer des Lebens einzulassen.